Absagekultur und Aktivismus?




Die Politisierung und Handlungsbereitschaft der Jugend nimmt trotz aufkeimender Phänomene wie „Joy of missing out“ zu. Wie ist das zu erklären? 


Dass die Gesellschaft sich zunehmend ehrgeiziger im Feld der Politik, positiv wie negativ, bewegt liefert längst keinen Schlagzeilenstoff mehr. 
Das politische Interesse der BundesbürgerInnen steigt seit 4 Jahren kontinuierlich, so gaben in einer Umfrage von rund 25.000 Deutschen ab 14 Jahren 17 Prozent aller Befragten an sich „ganz besonders“ für Politik zu interessieren, während es 2015 noch 14 Prozent waren. (Quelle: AWA 2020). 
Einen maßgeblichen Teil trägt der Aktivismus der Jugend dazu bei. Als mediale Darstellung, Denkzettelschreibmaschine und Sandkorn im Getriebe der „Altenpolitik“. 




Der Gegensatz ?"Sorry I'm late, I didn't wanto to come" - einer der Leitsprüche des "Jomo"-Trends


Es sind die Jahre des aktivistischen Aus-dem-Boden-Schießens und dem Entstehen eines ungeheuren Potentials, das vor allem aus der Generation Y und Z hervorgeht. 
Dieses Potential wird maßgeblich aus der Angst vor den eigens erlebten Folgen des Nicht-Handeln (wie dem Klimawandel) und den verhältnismäßig schnell sichtbaren gesellschaftlichen Erfolgen befeuert: „Fridays for Future“ wird zur globalen Bewegung, Verlage führen unter 25-Jährige als WortführerInnen einer Zeitepoche auf und Greta Thunberg wurde für den Friedensnobelpreis nominiert, um nur einige dieser Erfolge zu nennen.
Und es wird immer weiter demonstriert! Die Jugend will also was bewegen und tritt in der Gesamtheit als vorbildliches Beispiel hervor, wie es vorher nur aus immer wieder durchgekaut romantisierten Geschichten der 68er zu hören war. 

Gleichzeitig keimt im Privaten, dem ganz Persönlichen ein neues Phänomen auf. 
Die Shell-Studie 2019 verzeichnet, dass Jugendliche es deutlich wichtiger finden, Zeit mit der Familie zu verbringen als noch vor wenigen Jahren.
In Deutschland beklagt der Bundesverband Diskotheken und Tanzbetriebe das „veränderte Freizeit- und Konsumverhalten der jungen Generation“ - kurz: es wird weniger rausgegangen - und die Stiftung für Zukunftsfragen meldet, dass mindestens einmal die Woche „etwas Freunden unternehmen ist" seit 2004 um 44 Prozent eingebrochen sei. 
Das Kind hat auch schon einen Namen: "Joy of Missing out". 

"Joy of missing out" meint: das Glück der Absage. Das Gegenstück zu „Fear of Missing out“, der Angst etwas zu verpassen. Schnell wird das neue Phänomen verlacht und als bequem dargestellt.
Doch das ist zu einfach. Was sich wirklich hinter den schnell entworfenen und zugegeben amüsant anzusehenden „Sorry I’m late I didn’t want to come“ -Pullovern versteckt ist ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko der Jugend, das durch höhnische Sprüche und fehlerhafte Stigmatisierung weiterhin getarnt herumwüten kann. 


Zunächst einmal bedeutet „Joy of missing out“ nicht, dass Fear of Missing Out mit einem neuen Trendwort auf Buchcovern und Online-Foren nicht mehr aktuell ist. Im Gegenteil.
Sie wurde so stark, dass sie die „Joy of missing out“ erst gebären konnte, mit ihren gefährlichen Abfallprodukten: Introvertiertheit, vollständiger Rückzug, Vermeidungsverhalten, sowie das Entwickeln ernstzunehmender Ängste. 
Im 2017 erschienen Film „Tausend Arten Regen zu beschreiben“ werden diese drastisch dargestellt und zwar auf Grundlage des aus Japan bekannte Phänomen Hikikomori (vorrangig junge Menschen, die sich mindest ein halbes Jahr in ihrem Zimmer verschanzen ohne das Haus zu verlassen). Das Medienecho drückte nahezu betroffenes Verständnis aus. 
Das im Film Dargestellte gehört zu den extremen pathologischen Auswirkungen der Fear of Missing Out.
Eine blinde unbedachte Absagekultur stellt dennoch keine Lösung dar. 
Fear of Missing Out sowie Joy of Missing Out sind Produkte einer gefühlten Überforderung und Dauervernetzung, die nicht per se zu verteufeln ist, wohl aber schnell zum dysfunktionalen Gebrauch anregen kann.

Laut Süddeutscher Zeitung beklagen mehr als die Hälfte der Studierenden „starken Stress“. „Die Mischung aus dem Gefühl des Verpassens und nie endender Horrornews per Push-Mitteilung entfaltet eine lähmende Wirkung“.
Das Gefühl es sei schicker Frühstück und Newsupdates, sowie S-Bahnfahrt miteinander zur verbinden, oder beim Mittagessen schnell noch einen Podcast zu hören kennen sicher viele. Und jetzt soll das Bestreben nach „Multitasking“ und Mehrwissen auch noch verwerflich sein? 
Nicht direkt. 

Der Wissensdurst und der Wille der zeitgenössischen Teilhabe sind durchaus zu begrüßen und durch die Digitalisierung zugänglicher denn je - jedoch wird durch das gefühlte „Abarbeiten“ eines geglaubten Muss-Plans lediglich einem Ideal nachgestrebt, dessen nachhaltiger Informationswert sich oft den zu setzenden Haken daran beugen muss. 
Am Ende bleiben Wissen, wirkliche Information und in zwischenmenschlichen Situationen konzentriert wahrgenommene Zeit leicht aus und Frust macht sich breit. 
Wie man auch versucht etwas zu unternehmen - immer mehr scheint es durch die Vielzahl an Möglichkeiten, die Leichtigkeit der medialen Zurschaustellung - zu wenig und hinterhergehinkt. Darunter leidet die gefühlte Selbstwirksamkeit. 


Die Verharmlosung der übermäßigen „Cancel-culture“ liefert dazu fruchtbaren Nährboden für psychische Risikofaktoren, da diese unter dem ewigen „Das ist OK“ nicht gesehen werden.

„Joy of Missing Out“ stellt also vermeintlich eine neue Freiheit dar - Treffen abzusagen,
Begegnungen zu vermeiden und zuhause zu bleiben, die durch soziale Medien verharmlost als lässiges Lifestyle-Attribut dargestellt wird. 
Wie ist es also zu erklären, dass trotz zunehmender Zurückgezogenheit der Jugend das Gruppen-und Organisationenbilden sowie der politische Aktivismus in ihrer Gesamtheit ansteigt?


Der wohl entschiedenste Punkt hierfür ist, dass bei Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder die #wirsindmehr Demonstration eine Gemeinschaft (ausgenommen die AnführerInnen) und vor allem die Gesamtheit der GegnerInnenseite beobachtet wird. Nur wenige einzelne AkteurInnen beider Parteien werden porträtiert.  

Eine Perspektive von Oasis Vers: "I'm gonna start a revolution from my bed" - ob John Lennon und Yoko Ono ähnliche Lyrikfragmente im Sinn hatten? 


Bei persönlichen Treffen findet genauer betrachtet eine leichtere Kontrolle des derzeitigen Allgemeinzustands des eintreffenden Gastes statt. Vom Außen, das „sich seinen Teil denkt“ und zwar stumm und über die Möglichkeit verfügt sich geheim über seine Eindrücke auszutauschen. 
Schnell baut sich beim beobachtet Gefühlten eine irrationale Vorstellung zusammen. „Ich erfülle nicht den X-Standard, das könnte mich im Kontakt mit dieser Person belasten.“ Oder: „Ich will Person X treffen, aber eigentlich müsst ich dann auch Person Y und Z bald wieder sehen, das wird von mir erwartet“ oder: „Was wenn irgendwo irgendetwas passiert, das ich gar nicht mitbekommen kann - und mit dem Nicht-Bescheidwissen auch noch konfrontiert werde?“
Also Vermeidung: Absage. „Einfach mal Zeit für sich haben!“
Sicher ist es gesund, sich darauf zu konzentrieren der Fear of Missing out nicht in die Karten zu spielen und Pläne und Termine abzusagen. Das gehört zu einer fundamentalen Freiheit des Menschen.

Schnell entwickelt sich daraus jedoch ein Automatismus. Jegliche Verpflichtung wird zur Bedrohung und irgendwann zur irrationalen Angst und „alles zu viel“. Das ist weder, im Gegensatz zum Glauben vieler Spötter, mit einem Mangel an Selbstdisziplin oder Intelligenz zu Begründen - sondern schlicht mit dem schonungslosen Druck der treibenden Leistungsgesellschaft. 

Um schädigenden Defiziten vorzubeugen, sollte dem „eigenartig handelnden“ Individuum weniger mit Argwohn gegenübergetreten werden. Sondern mit Akzeptanz, wie es bei Massenbewegungen der Fall ist. 


„Komm rüber Mutter, wir sind auf deiner Seite! Komm rüber Alter, wir woll’n das gleiche!“ (aus Ton Steine Scherben: „Keine Macht für Niemand“) 
Im Gegenzug muss sich das Individuum auch durch Einfühlungsvermögen, Verantwortung und/oder Aktionismus im Kontakt mit Anderen erkenntlich zeigen. 

In Organisationen stellt dies die Kernaufgabe jedes einzelnen Mitglieds dar. 
Am Ende gilt es also vielmehr das Ideal der Gemeinschaft zu definieren und somit jedem Verantwortung zu übertragen und ein eigenständiges Handeln zu ermöglichen, dass nicht schädigend, sondern im besten Fall sogar unterstützend wirkt. 
Für das Gegenüber, die Gemeinschaft und sich selbst.
Das herauszufinden braucht Empathie. Diese zu stärken sollte zum persönlichen und gesellschaftlichen Ziel werden. 




Aron Boks 20.01.20 / Mein Buch „Luft nach Unten“:https://www.amazon.de/Luft-nach-unten-Magersucht-zusammenkam/dp/3862657779 oder im Buchhandel des Vertrauens.




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